„Goethes Faust ist völlig überbewertet.“ Wird dieser Satz von einem Deutschlehrer geäußert, halten ihn seine Kollegen in aller Regel für einen Kostverächter, welcher Hochverrat an der Walhalla der deutschen Literatur begeht.
Die Respektlosigkeit gegenüber den literarischen Ergüssen des deutschen Vorzeigedichters, die hier zum Ausdruck kommt, hat emotionalisierende Wirkung. Verständlich, wenn man den abfälligen Kommentar vor dem Hintergrund der unzähligen Beiträge aus Theater, Forschung und gymnasialer Oberstufe betrachtet, die sich mit Goethes Faust beschäftigen. Der Literat und sein Doktor besetzen seit jeher Führungspositionen im Betrieb gymnasialer Literaturvermittlung.
Dass Lehrer und Professoren seit Jahren die degenerierten sprachlichen Fähigkeiten von Schülern und Erstsemestern beklagen, ist kein Geheimnis. Die Beschwerden betreffen insbesondere Basiskompetenzen: die Beherrschung der Orthografie und der Syntax, die Textgestaltung sowie das Herstellen von Textverständnis. Vor dem Hintergrund dieser Mängel erscheint die Heiligsprechung des Doktor Faust im Deutschunterricht der Oberstufe als didaktischer und pädagogischer Kunstfehler. Was nützt den Schülern ein solides Halbwissen über Goethes Faust, wenn sie später in Studium und Beruf Schwierigkeiten haben, einen fehlerfreien Text zu produzieren, ein Protokoll anzufertigen oder ihr eigenes Arbeitszeugnis zu verstehen?
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Der Deutschunterricht steht vor der Herausforderung, sich den veränderten Gegebenheiten der herrschenden Welt anzupassen. Die Technologisierung der Kommunikation hat weitreichende Folgen für die gesamte Sprachkultur. Die Rechtschreibung wird mehr und mehr zum Prügelknaben des herrschenden Zeitgeistes. Der Rechtschreibfehler erfährt eine Wandlung vom peinlichen Fauxpas zum reputierlichen Akt orthografischer Rebellion. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob die Dominanz der Klassiker im Literaturunterricht dazu beitragen kann, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Bei allem Respekt für den Meister: Goethes Sprachstil leistet nicht gerade einen wirksamen Beitrag, einen zeitgemäßen Wortschatz aufzubauen. Kurioserweise erlauben sich die Lehrplanarchitekten, Goethe zu ignorieren, der selber einräumt: „Das Neue klingt. Das Alte klappert.“
Die Beschäftigung mit jungen Autoren hätte wahrscheinlich den positiven Effekt, die Identifikation der Schüler mit Literatur anzuregen. Die Welt der elektronischen Medien beschert dem Buch als Medium und der Rezeption von Literatur nicht gerade eine Renaissance. Es ist das Verschwinden des klassischen Gelegenheitslesers zu beobachten. Ohne Rücksicht auf diese folgenschwere Entwicklung wird ein beachtlicher Teil der Unterrichtszeit im Gymnasium damit verbracht, dem unzeitgemäßen Sprachstil eines Goethe oder Gryphius zu huldigen, selbst auf die Gefahr hin, dass sich die von den Schülern empfundene Distanz zwischen eigener Lebenswelt und Literatur weiter vergrößert.
Ist es denn wirklich nötig, den Faust einer ach so gründlichen Obduktion zu unterziehen? Genügt es nicht, ihn als Aufführung zu sehen und sogar in guter Erinnerung zu behalten? Man stelle sich vor, ein Schüler käme sodann auf die Idee, den Faust aus eigener Motivation zu lesen – und damit die in den Lehrplänen geforderte Aufgeschlossenheit für Literatur zu beweisen.
Illustration: Aus dem Buch „Who the fuck is Faust?“, Eichborn Verlag