Ihr aktueller Film „Frau Müller muss weg“ dreht sich um eine Horde wild gewordener Eltern, die eine Grundschullehrerin terrorisieren. Dabei haben die Mütter und Väter lediglich Grund zu der Annahme, dass ihre Kinder den Übertritt aufs Gymnasium nicht schaffen. Ist das nun eine Groteske, oder soll das ein Abbild der Realität sein?
WORTMANN: Der Film ist eine Realsatire. Frau Müller wagt es, für schwache Leistungen schlechte Noten zu geben. Auf einem außerplanmäßigen Elternabend soll ihr beigebogen werden, dass sie die Klasse gefälligst abzugeben hat. Pointiert, witzig, entlarvend: Kinostart: 15. Januar 2015
Die Pädagogin lässt sich allerdings nicht so leicht ins Bockshorn jagen, geht ihrerseits zum Angriff über, und prompt läuft das Treffen komplett aus dem Ruder. Bei den sonst so eloquenten Eltern brechen nach und nach alle Dämme. Aber es geht hier nicht nur um Borniertheit und Eitelkeiten, sondern auch um die ganz normalen Nöte und Probleme, die Eltern heute haben. Filmtipp
Im Klassenzimmer, der neuen Kampfarena der Eitelkeiten, sind sich die Eltern einig – „Frau Müller muss weg“!
„Frau Müller muss weg“ könnte man auch als Lehrstück für einen Teil der heutigen Elterngeneration verstehen. Wie lautet die Botschaft an die Fraktion der Hysteriker?
WORTMANN: Ein Film hat zu unterhalten und nicht zu belehren oder irgendwelche Botschaften zu senden. Sagen wir mal so: Ich kann nicht verbergen, dass der Film auch die Haltung des Regisseurs widerspiegelt, die da lautet: Liebe Eltern, macht euch mal locker. Und: Lasst doch der Jugend ihren Lauf, wie es so schön und richtig in dem alten Volkslied heißt.
Im Film kommt die patente Frau Müller viel besser weg als die Eltern. Haben Sie etwa mehr Sympathien für die Lehrer?
WORTMANN: Wir ergreifen nicht Partei, sondern zeigen, zugegeben sehr überspitzt, die Folgen unseres Bildungssystems.
ENGELKE: Lehrer stehen doch unter dem Generalverdacht unfähige, faule Säcke zu sein. Dabei verdienen sie zunächst mal unseren Respekt. Mit wechselseitigen Vorurteilen und Vorwürfen kommt man auch nicht weiter. Wem dagegen Vertrauen geschenkt wird, der handelt verantwortlich. Deshalb brauchen die Lehrer das deutliche Signal der Eltern: Wir akzeptieren, dass du hier der Boss bist, und lassen dich machen. Und umgekehrt brauchen die Eltern natürlich auch die Wertschätzung der Lehrer und die Gewissheit: Wir sitzen im selben Boot und haben das gleiche Ziel.
Eltern wollen für ihre Kinder unbedingt das Abitur. Das ist aber nicht unbedingt das Ziel der Lehrer, oder?
WORTMANN: Das gemeinsame Ziel sollte doch eine umfassende Bildung im humboldtschen Sinne sein. Ich selbst hätte übrigens kein Problem mit einem anderen Schulabschluss als dem Abitur. Wenn meine Kinder im handwerklichen Bereich Talente hätten, sollten sie eine Lehre machen. Ich bin auch überzeugt, dass die ganze Hysterie am Ende der vierten Klasse zum großen Teil eine Folge von Unkenntnis ist. Es muss doch gar nicht das Gymnasium sein. Das Abi kann man, in Nordrhein-Westfalen zumindest, auch prima auf einer Gesamtschule machen. Hier möchte ich mal mit einer Mut machenden Statistik glänzen: Die Abiturienten der lässigeren Gesamtschulen bauen nur ein minimal schlechteres Abitur als ihre Kollegen vom Gymnasium. Und angeblich soll selbst im strengen Bayern das Schulsystem durchlässiger sein, als man gemeinhin annimmt.
Liebe Eltern, macht euch mal locker. Lasst doch der Jugend ihren LaufSönke Wortmann
Im Film gibt es einen Vater, der seiner Tochter Gehirnjogging verordnet und seinen Ehrgeiz sogar beim gemeinsamen Basteln eines Kastanienmännchens auslebt. Frau Engelke, Sie spielen eine Karrierefrau, die über ihre Tochter sagt, sie sei „nicht die hellste Leuchte im Kerzenständer“, und sie trotzdem aufs Gymnasium bugsieren will. Warum machen Eltern heute so viel Druck?
ENGELKE: Eltern und ganz oft auch die Großeltern wollen verständlicherweise, dass Kinder ihre Chancen wahrnehmen. Chancen, die man vielleicht selbst nicht hatte. Man darf nur nicht den Fehler machen, aus Frust über eigene verpasste Gelegenheiten die Kinder zu irgendwas drängen und ständig pushen zu wollen.
WORTMANN: Eltern haben oft Angst, dass schlechte Noten den Kindern die Zukunft versauen. Ich teile diese Befürchtungen nicht. Gewiss, die Jobs werden weniger, aber die Kinder doch auch. Und es ist doch Blödsinn, dass Massen bestens ausgebildeter und genügsamer Asiaten und Osteuropäer vor der Tür stehen, nur um unseren Nachwuchs auf dem Arbeitsmarkt das Fürchten zu lehren. Ich bin mir sicher: Auch was später die Jobs angeht, können wir Eltern ganz entspannt sein.
Apropos entspannt sein: Helfen Sie Ihren Kindern eigentlich bei den Hausaufgaben?
WORTMANN: Ganz ehrlich, ich bin viel unterwegs und mache nicht wirklich das Tagesgeschäft mit den Kindern. Ja, ab und zu höre ich vielleicht mal Vokabeln ab. Aber bereits beim Mathestoff der sechsten Klasse muss ich passen. Kein Wunder übrigens, denn 95 bis 99 Prozent des Schulstoffs hat man als Erwachsener vergessen. Oder kann mir etwa hier jemand das ohmsche Gesetz erklären?
ENGELKE: Nee, aber wie wär’s mit Osmose? Stichwort: semipermeable Membran. In der Wanne bekommen wir schrumpelige Finger, weil der Salzgehalt der Haut höher ist als der des Wassers.
WORTMANN: Das hast du nur behalten, weil es dich interessiert hat.
ENGELKE: Das hat mich interessiert, weil es mein Lehrer so anschaulich erklärt hat. Ich wollte selbst mal Lehrerin werden und habe ein Pädagogikstudium angefangen. Vermutlich bin ich deshalb eine so leidenschaftliche Anwältin dieser Zunft. Lehrer werden Lehrer nicht, weil sie so bequem sind, sondern weil sie Kindern etwas vermitteln wollen. Okay, das gelingt nicht immer gleich gut. Menschen sind keine Maschinen. Eltern nicht, Schüler nicht, Lehrer aber eben auch nicht. Also braucht es Gelassenheit, wenn es mal nicht klappt. An einem anderen Tag sind die Schüler aufnahmebereiter, und der Lehrer ist wieder mehr auf Zack.
Was rät die Beinahe-Lehrerin Anke Engelke denn den Eltern eines Schülers, der sich um gute Noten nicht die Bohne schert?
ENGELKE: Statt sich um Noten zu sorgen und ständig alles kontrollieren zu wollen, sollten sich diese Eltern vielleicht mehr für die Inhalte von Schule interessieren. Sie haben eben nach Hausaufgaben gefragt. Okay, man kann sagen: „Hey, lass mal, Mathe konnte ich auch nie.“ Aber man könnte sich vielleicht auch abends einfach mal das Mathebuch aus dem Ranzen schnappen und schauen, was das Kind da eigentlich lernt. Vielleicht ist das bei näherem Hinsehen dann nämlich doch ganz spannend.
Klingt einleuchtend. Haben Sie noch andere Rezepte?
ENGELKE: Patentrezepte gibt es nicht. Jedes Kind ist anders, die Situation in den Familien sowieso. Eine Anregung vielleicht: Wenn es Probleme gibt, sollten wir Eltern uns erst mal an die eigene Nase fassen. Statt zu meckern, dass die Kinder nur noch ins Smartphone starren, könnten wir uns fragen, ob wir für dieses Verhalten selbst womöglich die Blaupause liefern. Eine der häufigsten Klagen von Eltern ist, dass die Kinder dauernd sagen: „Jetzt nicht, komme gleich, muss nur noch eben dies und das machen …“
Mich nervt das auch kolossal. Ich höre das gefühlte hundertmal am Tag.
ENGELKE: Und Sie selbst? Wie oft sagen Sie diese Sätze zu Ihren Kindern?
Zugegeben, täglich ebenfalls hundertmal. Welche Fehler sollten wir uns sonst noch verkneifen?
In der Retrospektive sind die meisten Probleme ziemlich lächerlichAnke Engelke
WORTMANN: Da halte ich es mit Sepp Herberger – wer viele Ballkontakte hat, darf auch viele Fehler machen. Eltern sind nicht perfekt und müssen das auch gar nicht sein.
ENGELKE: Stimmt. Wir müssen uns nur davor hüten, den Kontakt zu verlieren. Kinder brauchen ihre Privatsphäre, ihre Geheimnisse, ihre Rückzugsmöglichkeiten. Mal muss man als Eltern wegschauen, mal sehr genau hingucken. Wenn man einen Draht zu seinen Kindern behält, merkt man, wann man auf dem Posten sein muss. Und das Angebot, „Ich bin da, wenn du mich brauchst“, das muss ehrlich sein und nicht nur so dahingesagt. Das A und O: Als Eltern braucht man Zuversicht. Alles wird gut. Das muss unser tägliches Mantra sein.
Und wenn das alles nicht hilft und einem die Sorgen die Kehle zuschnüren?
ENGELKE: In der Retrospektive sind die meisten Probleme ziemlich lächerlich. Wenn man mittendrin steckt, kann man schlecht souverän und gelassen sein. Da hilft es, wenn man sich gedanklich in die Zukunft beamt. Plötzlich wird aus der grell geschminkten pubertierenden Tochter eine patente Frau, die ihr Leben voll im Griff hat. Und wir sehen uns: voller Stolz und hoffentlich nachsichtig darüber lächelnd, dass wir uns mal so verrückt gemacht haben.