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Flüchtlingskinder in Deutschland: Zwischen Trauma und Hoffnung

Der Flüchtlingsstrom nach Deutschland reißt nicht ab. Kinder aus Krisenländern kämpfen hier mit dem Erlernen einer neuen Sprache, neuem Unterrichtsstoff – und häufig mit ihren bedrückenden Erinnerungen an Krieg und Flucht


Patsch, klatsch, schnipp. Patsch, klatsch, schnipp. Drei Teenager sitzen mit ihrer Lehrerin im Kreis. Sie klopfen mit den Händen auf die Oberschenkel, klatschen in die Hände, schnippen und nennen dann jeweils ein Adjektiv. Patsch, klatsch, schnipp. „Müde“, sagt Samira* aus Syrien. „Schön“, wispert Amar aus Afghanistan schüchtern. „Aufgeregt“, sagt Andrej aus Russland. Wenn einer aus dem Takt kommt, werden die Stühle gewechselt, und jeder übernimmt das Adjektiv seines Sitznachbarn. Das klappt nicht immer – und so wird viel gelacht im Deutschförderunterricht der Mittelschule im schwäbischen Fischach.

4500 Einwohner zählt dieser Ort. Rund 600 Kinder besuchen hier die Grund- und Mittelschule, auch Kinder aus den Asylunterkünften, die sich in der Umgebung befinden – wie Samira, Amar und Andrej. Der Migrationsanteil der Schule beträgt fünf Prozent.

2 Jahre lang lernen Flüchtlingskinder in bayerischen Übergangsklassen Deutsch und regulären Stoff – dann sollen sie fit für eine Regelklasse sein

Kinder haben ein Recht auf Bildung. Ab wann und wie Flüchtlingskinder unterrichtet werden, ist in den Bundesländern, den Städten und Gemeinden unterschiedlich geregelt. Meist bekommen Kinder erst Unterricht, wenn sie von einer Erstaufnahmeeinrichtung in eine Gemeinschaftsunterkunft ziehen. Aber viele Erstaufnahmeeinrichtungen sind überbelegt. 2014 stellten 202 834 Menschen in Deutschland einen Asylantrag. Da die Behörden überlastet sind, warten die Familien oft lange auf die Zuteilung in eine Gemeinschaftsunterkunft – und die Kinder somit auf den Schulbesuch. „Wir haben in Köln viele Kinder, die deshalb seit Monaten nicht zur Schule gehen – das ist absolut verlorene Zeit“, klagt Mercedes Pascual Iglesias von der Arbeiterwohlfahrt im Bezirksverband Mittelrhein. „Wir fordern Integration von Anfang an“, sagt auch Tobias Klaus von Pro Asyl.

Für Schulen ist die Aufnahme von neuen Flüchtlingskindern eine riesige Herausforderung. „Manchmal kommen Kinder am Donnerstag an und stehen am Montag in der Schule“, erzählt Klaus Wenzel, Chef des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). Trotz aller Probleme ist es erstaunlich, wie rasch die Kinder zu lernen beginnen. Der 15 Jahre alte Amar musste sich auf der Flucht von Afghanistan nach Deutschland mehrere Monate allein in Griechenland durchschlagen und ist erst seit ein paar Monaten in Schwaben. Er kämpft noch sehr mit der Grammatik, ist schüchtern. Seine Schwester Naima ist bereits seit zwei Jahren in Fischach. Sie spricht fast akzentfrei Deutsch und geht in eine Regelklasse. Ihr Berufswunsch: „Was mit Jura.“

Zuflucht in Deutschland

  • Der Flüchtlingszustrom nach Deutschland nimmt immer weiter zu. 202 834 Menschen stellten 2014 einen Asylantrag, das sind etwa 60 Prozent mehr als im Vorjahr. Bislang wird mit 800.000 Flüchtlingen gerechnet – Vizekanzler Sigmar Gabriel spricht sogar von einer Million.

  • In Großstädten kommen Flüchtlingskinder zunächst in Willkommensklassen (Berlin), Übergangs-klassen (München) oder Vorbereitungsklassen (Köln, Dresden). Dort lernen sie erst mal vor allem Deutsch, später wechseln sie in eine Regelklasse.

  • Auf dem Land und in kleineren Orten werden Flüchtlingskinder meist gleich in eine Regelklasse integriert. Sie bekommen zum regulären Unterricht zudem Deutschförderunterricht.

  • Einige Zahlen:
    Allein in Bochum in Nordrhein-Westfalen wurden 2014 rund 970 Seiteneinsteiger beschult, davon waren 620 Flüchtlinge. Es gibt 38 Auffangklassen. In Sachsen ist die Anzahl der zwei- und mehrsprachig aufwachsenden Schüler im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 70 Prozent gestiegen. In Bayern werden derzeit 6075 Kinder in Übergangsklassen von Grund- und Mittelschulen unterrichtet. Hinzu kommen 4500 Plätze im zweijährigen berufsvorbereitenden Angebot für berufsschulpflichtige Flüchtlinge und Asylbewerber. Häufig sind die jungen Flüchtlinge von Krieg und Flucht schwer traumatisiert, depressiv oder selbstmordgefährdet. Schulen fordern daher mehr Unterstützung und mehr Schulsozialarbeiter.

„Wir haben an unserer Schule genügend Förderung, um Flüchtlingskinder aufzufangen“, sagt Direktor Johann Dürr. „Es ist toll zu sehen, wie sich die Kinder entwickeln. Ein Junge aus Pakistan, der vor vier Jahren zu uns gekommen ist, ist inzwischen im Mittlere-Reife-Zug unserer Schule.“ In kleineren Orten werden Flüchtlingskinder in eine Regelklasse integriert. Klappt das? BLLV-Chef Wenzel: „Es ist wichtig, dass Lehrer nicht nur die Neuankömmlinge im Auge haben, sondern auch die anderen Kinder in der Klasse. Sie sollten wissen, dass die Neuen nicht bequem mit dem Flugzeug angereist sind, sondern eine gefährliche Flucht hinter sich haben.“ In den Regelklassen wissen die Klassenkameraden meist um die tragischen Hintergründe ihrer Mitschüler. In Städten werden Flüchtlingskinder dagegen zunächst in sogenannten Übergangs- (Bayern), Willkommens- (Berlin) oder Vorbereitungsklassen (Sachsen) unterrichtet – fast alle Schüler hier haben Krieg, Flucht und Armut erlebt. „Wir stellen das Flüchtlingsthema nicht in den Vordergrund. Es tut den Kindern gut, ihre Vergangenheit für ein paar Stunden hinter sich zu lassen“, sagt Direktorin Hanna Bogdahn von der Grundschule in der Schwanthalerstraße in München.

In der „Ü-Klasse“ in München sitzen Kinder aus Syrien, Afghanistan, Rumänien, dem Kosovo, Ghana, Nigeria. Einige sprechen kaum Deutsch, andere singen das Morgenlied schon flüssig mit. „Guten Morgen, guten Tag, weißt du schon, dass ich dich mag . . .“, trällert Lehrer Alexander Haberkorn mit seiner Klasse. Die Kinder sind neun bis elf Jahre alt, zuvor aufgrund von Krieg und Flucht oft monatelang nicht zur Schule gegangen. Haberkorn muss ihnen nicht nur Deutsch beibringen, sondern auch den regulären Stoff – schließlich sollen sie in zwei Jahren fit für eine Regelklasse sein. In der Ü-Klasse sind maximal 20 Kinder. Doch immer wieder findet ein Wechsel statt. Entweder gehen Kinder, da ihr Asylantrag anerkannt wird und sie umziehen, oder andere werden abgeschoben, dafür stoßen Neuankömmlinge zur Gruppe. Haberkorn: „Ich integriere immer wieder von Neuem.“

In der Regel ist der Lehrer auf sich allein gestellt, manchmal wird er von Studenten oder Ehrenamtlichen unterstützt. Haberkorn: „Es wäre schon toll, wenn man zumindest zeitweise zwei Lehrer für eine Ü-Klasse hätte.“ Wenn er merkt, dass ein Kind schwer traumatisiert ist, fordert er psychologische Hilfe an: „Dafür sind wir als Lehrer nicht ausgebildet.“ Doch wie soll man als Lehrer 20 Schülern mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Problemen gerecht werden?

Auch für die Kinder ist der Unterricht eine Herausforderung. „Sechs Stunden in einer anderen Sprache sind anstrengend“, weiß Haberkorn, der selbst zweisprachig (Deutsch und Griechisch) aufgewachsen ist und auch Deutsch als Zweitsprache studiert hat. Nicht alle Lehrer von Ü-Klassen verfügen über diese Ausbildung. In Nord-rhein-Westfalen hat man auf die steigende Zahl von Flüchtlingskindern inzwischen reagiert – dort müssen Lehramtsstudenten bereits seit Jahren Deutsch als Fremdsprache belegen.

Weiter informieren und helfen

  • Buch-Tipp 1:

    Für Kinder ab sechs Jahren – Bilderbuch „Akim rennt“, C. K. Dubois, Moritz Verlag, 12,95 Euro

  • Buch-Tipp 2:

    Eindringliches Gedankenspiel:
    „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“, J. Teller, Hanser Verlag, 6,90 Euro

  • Internet-Tipp:

    Preisgekrönte Schule für ältere Flüchtlingskinder:
    www.schlau-schule.de

    UNICEF-Studie zum Thema: http://bit.ly/1EixwF1

  • So helfen Sie:

    Diese Kinder-Flüchtlingsprojekte brauchen Unterstützung:

    grenzen: LOS, die Kunstwerkstatt für Flüchtlingskinder vom Refugio München: www.grenzenlos-frei.de

    Ausbildung statt Abschiebung: www.asa-bonn.org

    Freudentanz – das grenzenlose Tanzprojekt: www.freudentanz.net

    Champions ohne Grenzen:
    www.championsohnegrenzen.de

    … oder einfach Zeit spenden, z. B. als Hausaufgabenhilfe oder Lernpate. Infos u. a. bei der örtlichen Caritas, der Inneren Mission oder der Arbeiterwohlfahrt

In der Schule in der Münchner Schwanthalerstraße beträgt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund 87 Prozent. Laut Lehrer Haberkorn haben die meisten Eltern daher Verständnis für Flüchtlingskinder und helfen gern. Da werden Schulranzen gespendet oder zu klein gewordene Turnsachen weitergegeben. Der Austausch mit den Flüchtlingseltern ist dagegen oft schwierig: Zu Elternabenden kommt kaum jemand. Bei Fragen vermitteln Sozialarbeiter aus den Unterkünften. „Trotzdem sind die meisten Eltern hinterher, dass es in der Schule gut klappt“, sagt Simon Oschwald, der für die Diakonie die Hausaufgabenhilfe für Flüchtlingskinder in Augsburg koordiniert.

Für jüngere Flüchtlingskinder ist die Integration meist leichter; für über 16-Jährige schwierig – sie sind in den meisten Bundesländern nicht mehr regelschulpflichtig. „Für diese Jugendlichen besteht oft gar keine Beschulungsmöglichkeit“, kritisiert Tobias Klaus von Pro Asyl. Einige Länder wie Bayern bieten inzwischen auch gute Möglichkeiten für jugendliche Flüchtlinge an: Sie können über Berufsschulen ihren Quali nachholen. Sinnvoll in Zeiten, in denen viele Lehrstellen unbesetzt bleiben.

Schule bedeutet ein Stück Normalität für Flüchtlingskinder – und eine Chance auf ein besseres Leben. Tobias Klaus: „Man kann total clever und qualifiziert sein, aber wenn man die Sprache nicht kann und keinen Abschluss hat, kann man später nur Hilfsjobs machen.“

 

* alle Schülernamen wurden von der Redaktion geändert

Titelfoto: Andreas Fechner/Magazin SCHULE; aufgenommen an der Gemeinschaftsschule Berg-Fidel in Münster.



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