Denken & Diskutieren

Die Ganztagslüge

Die Eltern arbeiten, die Kinder werden in der Ganztagsschule unterrichtet, gefördert, bekocht. Klingt gut. Funktioniert nur leider noch nicht überall


Es klingt eigentlich toll: Schulen, die nicht nur Lern-, sondern auch Lebensraum sind. Kein Wunder, dass Experten seit Langem ein Loblied auf Ganztagsschulen singen. Sie sollen für mehr Chancengleichheit, eine neue Lernkultur und bessere Bildung sorgen. Kinder werden individueller gefördert, erhalten ein gesundes Mittagessen, finden Zeit für Spiel und Sport, und wenn am späten Nachmittag der Gong ertönt, sind alle Hausaufgaben erledigt. Ein Traum für Kinder und deren berufstätige Eltern.

Das Angebot reicht für mich an keinem einzigen Tag – da gebe ich mein Kind lieber in einen Hort

Doch unter dem schicken Etikett verbirgt sich oft eine Mogelpackung – auch wenn die Absichten die besten sind. Zum Beispiel die Münchner Grundschule in der Bergmannstraße. Im letzten Jahr hat sie bei einer einzigen ersten Klasse den Ganztag eingeführt – schon gilt die Einrichtung per definitionem als „Ganztagsschule“. Der Unterricht dauert von Montag bis Donnerstag bis 15.30 Uhr, am Freitag bis 12.20 Uhr. Direktor Friedrich Fichtner weiß selbst, dass dies nicht ausreicht: „Viele Eltern brauchen eine Betreuung bis 17 Uhr und ein Angebot in den Ferien. Wer hat schon 14 Wochen Urlaub im Jahr?“ Doch es fehlt an den finanziellen Mitteln für AGs wie Fußball und Musik und für zusätzliches pädagogisches Personal.

Zwar hat die Bundesregierung mit einem 4-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm in den letzten Jahren den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen unterstützt, auch Landesregierungen und Kommunen haben bereits viel investiert. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung reichen die Anstrengungen aber lange noch nicht aus: Die Länder müssen noch mehrere Milliarden Euro aufwenden, um ein flächendeckendes Angebot zu erreichen. Bildungsforscher fordern ein Ganztagsangebot, das den Namen auch verdient. Die von ihnen präferierte „gebundene“ Ganztagsbetreuung sieht einen rhythmisierten Schultag von sieben Zeitstunden vor, in dem sich Lern- und Entspannungseinheiten abwechseln. Die „offene“ Ganztagsbetreuung hingegen bietet wie gehabt Unterricht am Vormittag und ab mittags nicht viel mehr als „Currywurst mit Hausaufgabenbetreuung“, wie Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, moniert. Das Nachmittagsangebot ist nicht verpflichtend und ähnelt meist einer hortähnlichen Betreuung. Wenzels Forderung: „Man braucht mehr Ganztagsangebote aus einem Guss.“

Wunsch und Wirklichkeit klaffen wie so oft im deutschen Bildungskuddelmuddel weit auseinander. Die Angebote in West und Ost, Nord und Süd sind recht unterschiedlich.

In Sachsen zum Beispiel bieten im Primar- und Sekundarbereich I – das sind Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen sowie Gymnasien bis zur 9. Klasse – bereits 97 Prozent der Schulen Ganztagsbetreuung an, in Bayern 48 Prozent, in Sachsen-Anhalt lediglich 26 Prozent. Diese Statistik ist jedoch nicht aussagekräftig, da eine Schule bereits als Ganztagsschule gilt, sobald sie eine einzige Ganztagsklasse im Angebot hat – das sind unter Umständen nur 25 von 300 Kindern. Aussagekräftiger ist die Statistik zur Schülerbeteiligung. Die ist deutlich geringer: In Bayern sind nur 5,2 Prozent der Schüler im offenen und 5,5 Prozent im gebundenen Ganztag.

Wer einen Platz in einer Ganztagsschule annimmt, sollte also besser genau hinschauen – denn Ganztag ist nicht gleich Ganztag. Es variieren nicht nur Unterrichtsform und Freizeitangebot, sondern von Bundesland zu Bundesland, von Schule zu Schule die Betreuungszeiten – meist ist um spätestens 16.30 Uhr Schluss.

Zahlen aus den Bundesländern

  • 98,6 %

    der Schulen in Sachsen hatten 2012 ein Ganztagsangebot – das ist Spitze in Deutschland. Nur das Saarland (95,3 %) und Berlin (87,3 %) kommen auf ähnliche Werte.

  • 78,1 %

    der sächsischen Schüler nutzen tatsächlich ein Ganztagsangebot. Auch das ist der höchste Wert in Deutschland. In Berlin sind es 54 %, im Saarland hingegen nur 27,5 %.

  • 56,3 %

    aller öffentlichen Bildungseinrichtungen in Deutschland dürfen sich Ganztagsschulen nennen. Genau die Hälfte der Bundesländer liegt über, die andere Hälfte unter diesem Durchschnitt.

  • 29,2 %

    der Schüler in Bremen besuchen eine gebundene Ganztagsschule. Das ist der höchste Wert Deutschlands. In Hessen sind es nur 3,5 %.

  • 10,7 %

    der bayerischen Schüler nutzen ein Ganztagsangebot. Das ist mit Abstand die niedrigste Quote in Deutschland, gefolgt von Baden-Württemberg mit 17,6 %. Erstaun-licherweise weist Bayern trotzdem 45,2 % seiner Einrichtungen als Ganztagsschulen aus – diese Diskrepanz ist nirgends größer.

Gerade die Betreuungszeiten sind für viele Eltern ein Aufreger. Wenn Vater und Mutter Vollzeit arbeiten, ist ihnen ausgerechnet mit einer Ganztagsschule weniger gedient als mit einem anderen Betreuungsmodell. Laut Kultusministerkonferenz darf sich Ganztagsschule nennen, wer an mindestens drei Tagen in der Woche ein Mittagessen und eine mindestens siebenstündige Betreuung anbietet. Eine alleinerziehende Mutter aus München findet den irreführenden Namen eine Frechheit: „Ich muss an fünf Tagen in der Woche je acht Stunden arbeiten. Die angebotene Betreuung reicht für mich an keinem einzigen Tag – da gebe ich mein Kind lieber in einen Hort.“ Auch um Wahlfreiheit zwischen gebundener und offener Ganztagsbetreuung gibt es Diskussionen. Experten sähen es am liebsten, wenn der gebundene Ganztag für alle Schüler verpflichtend wäre. „Vollgebundene Ganztagsschulen haben die individuelle Förderung der Schüler im Schnitt etwas besser ausgebaut“, meint Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut. Auch die Rhythmisierung, also der Wechsel zwischen anstrengenden Lern-, Übungs- und Entspannungsphasen, funktioniere im gebundenen Ganztag besser.

Mit dem Aufwand, den dies für die Schulen bedeutet, werden diese vielfach allein gelassen. Nach einer Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG/2013) klagen 30 bis 45 Prozent der Schulleitungen, dass die finanziellen, personellen und räumlichen Ressourcen ungenügend seien. Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut: „Politischen Gestaltungswillen, verbunden mit auskömmlicher finanzieller Förderung, erkenne ich allenfalls in homöopathischer Dosis.“

Tatsächlich unterstützen die Bundesländer und Kommunen die Schulen oft eher schlecht als recht. In Sachsen-Anhalt sollen Schulen, die in den Ganztag gehen, pädagogische Mitarbeiter bekommen. „Aber ich kenne fast keine Schule, die solche Mitarbeiter tatsächlich hat. Die Schulen bekommen dann ein paar Extralehrerstunden, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Dietmar Frühauf, stellvertretender Landesvorsitzender des Sekundarschullehrerverbands Sachsen-Anhalt. Auch die Gelder, um Arbeitsgemeinschaften wie Fußball, Tanz, Musik oder Schach anzubieten, reichten nicht aus. Frühauf: „Entweder die Schulen haben gute Sponsoren, oder sie haben Pech.“

Auch bayerische Schulen sind ziemlich auf sich selbst gestellt. In der Grundschule in der Bergmannstraße wurde das Klassenzimmer über die Sommerferien umgebaut, Möbel bestellt, ein Zimmer als Essensraum umfunktioniert – leider kamen einige Möbel zu spät, die Spülmaschine war auch Wochen nach Schulbeginn noch nicht funktionsfähig. Das benutzte Geschirr musste jeden Tag zur Mittagsbetreuung zum Abspülen gebracht werden. „Gerade in den ersten Wochen mussten wir viel improvisieren“, so Direktor Fichtner. Zehn zusätzliche Lehrerstunden und etwas über 10 000 Euro stehen dem Direktor für seine erste Ganztagsklasse zur Verfügung. Mit dem Geld müssen externe Partner wie Kunst- und Musiklehrer bezahlt werden. „Die Lehrerstunden sind angemessen, die finanzielle Ausstattung erscheint mir zu gering“, sagt Fichtner. Aber die Schule hat Glück, fand unter anderem mit Artists for Kids einen großzügigen Partner. Die Eltern der Ganztagsklasse sind dennoch froh über das Angebot: „Die Umsetzung ist schon deshalb gut, weil die Lehrerin, die Pädagogen und der Direktor sehr engagiert sind“, findet eine Mutter.

Die Attraktivität der Freizeitangebote steht und fällt mit der finanziellen Ausstattung und der Vernetzung von Schulleitung und Lehrern. Eine Mutter aus Augsburg ärgert sich darüber, dass das Gymnasium ihrer Tochter im ersten Jahr „nur Fußball und Maschinenschreiben“ anbot. Nachdem sich Eltern beschwert haben, gibt es nun auch noch ein Chorangebot. „Diese AGs finden aber während der Lern- und Hausaufgabenzeit statt, das heißt, meine Tochter muss oft noch nach der Schule ihre Aufgaben erledigen – irgendwie ist das alles unausgereift.“

 

Was bedeutet eigentlich Ganztagsbetreuung?

Ganztagsschulen

Die Definition der Kultusministerkonferenz besagt: Als Ganztagsschule (im Primar- und Sekundarbereich I) gilt eine Einrichtigung, die an mindestens drei Tagen pro Woche ein ganztägiges Angebot bietet. Dieses muss mindestens sieben Zeitstunden umfassen.
Zudem muss an allen Tagen des Ganztagsschulbetriebs ein Mittagessen angeboten werden.
Der Ganztag muss unter der Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung stehen und in enger Kooperation mit dieser durchgeführt werden.

Unterschieden werden die Typen rechts. Den Schulen steht frei, für welches Konzept sie sich entscheiden.

  • Gebundener Ganztag

    Dieser ist für alle Schüler verpflichtend. Bis in den Nachmittag findet ein Wechsel aus Lern-, Bewegungs- und Freizeiteinheiten statt. Das Konzept wird von Bildungsexperten präferiert, erfordert aber personell und finanziell auch den meisten Aufwand.

  • Teilweise gebundener Ganztag

    Dieser ist für einen Teil der Schüler verpflichtend.

  • Offener Ganztag

    Das Nachmittagsangebot ist nicht verpflichtend. Schüler können auf Wunsch daran teilnehmen. Die offene Ganztagsbetreuung ist bundesweit die am meisten verbreitete.

Oft fehlt es gänzlich an kompetenten Fachkräften. „Es kann schon mal sein, dass man zwar einen tollen Gärtner für den Schulgarten findet, dieser aber nicht mit Kindern umgehen kann“, erzählt Klaus Wenzel vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband. Eine Münchner Erzieherin ärgert sich über den häufigen Einsatz von Aushilfen: „Für das Geld, das den Schulen in Bayern zur Verfügung gestellt wird, bekommt man keine qualifizierten Fachkräfte.“ Im Vergleich dazu erscheint die Situation in Rheinland-Pfalz fast luxuriös. Dort erhält eine Grundschule rund 26 Lehrerwochenstunden für eine Ganztagsklasse, rechnet der Landeschef des Verbands Bildung und Erziehung, Gerhard Bold, vor. Eine Lehrerwochenstunde entspricht 1280 Euro – das macht immerhin gut 33 000 Euro pro Jahr. „Wer Ganztagsschulen will und kein Geld in die Hand nimmt, der scheitert“, so Bold.

„Der Ganztag macht das Leben für Schüler und Lehrer entspannter“, glaubt Jutta Endrusch, Hauptschulrektorin aus Witten. Während in vielen Schulen die Teilnahme am Mittagessen freiwillig ist, hält Endrusch eine gemeinsame Mahlzeit im Klassenverband für „genauso wichtig wie einen sinnvollen Wechsel von Lern-, Entspannungs- und Bewegungsphasen“. Aber selbst das warme Essen stellt viele Schulen vor Probleme: Mal fehlt es an Raum, und Mittagsbetreuungen werden zur Kooperation genötigt, mal müssen Kinder in Schichten essen, weil die Mensa viel zu klein ist.

Solange es also noch an Konzepten, Geld, Personal und Räumlichkeiten fehlt, gilt für den Ganztagsausbau das Wort von Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut: „Es gibt noch viel Luft nach oben“.



Unsere Themen im Überblick

  1. von Barbara

    An vielen Schulen, die Ganztagsklassen einrichten, wird die „zusätzliche“ Zeit über festgelegte AGs mit ehrenamtlichen, teils täglich wechselnden Betreuern z.B. aus Sportvereinen abgedeckt. Die übergreifende, pädagogische Betreuung und die Möglichkeit, die Kinder in Ihrer Entwicklung über längere Zeit wahr zu nehmen und zu beobachten, bleibt auf der Strecke. Damit steht Ganztags(-grund-) schule noch deutlich hinter der Hortbetreuung. Im Hort hatten unsere Kinder über 6 Jahre hinweg konstante Erzieher, die täglich für sie da waren, die Kinder kannten und die tolle Projekte mit den Kindern initiierten. Es gab für die Kinder viel „unverplante“ Zeit, in der Möglichkeit für „freie“ Tätigkeiten war. Da war Raum und Zeit für Sport, Kreatives, Ruhe, Kommunikatives, ….. Gelernt haben die Kinder dort sehr viel – und das auch noch freiwillig in den Ferien!!! Um das zu erreichen, müssen viele Ganztagsschulen noch viele nachbessern – und die Städte und Gemeinden auch Horte mit qualifizierten Erzieherinnen und Erziehern und einem bewährten Konzept weiterhin fördern und pflegen!

  2. Unsere Jungs besuchen seit letztem Herbst eine gebundene Ganztagesklasse. Das Projekt klingt auf dem Papier zunächst gut. Dieses Konzept gibt es bei uns am Ort seit drei Jahren – sie hatten also ein wenig Zeit zum „Üben“. Jedoch fehlt das ausgewogene Zusatzprogramm, gerade am Nachmittag. Musikunterricht oder Sport sind fast Mangelware. Man muss sich mühsam Kurse danach zusammensuchen, die meistens aber schon früher am Tag begonnen haben – für die „Regelklassen“. Da ist noch sehr viel Arbeit nötig, damit es an allen Ecken und Enden funktioniert.

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