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Zweisprachig aufwachsen

Heia heißt „nonito“: Bilingualität macht flexibel und erleichtert das Lernen weiterer Sprachen. Damit Kinder davon profitieren, sollten ihre Eltern die wichtigsten Regeln kennen


„Ich will nonito machen“, ruft Jonathan und kuschelt sich an seine Mutter. „Nonito“ ist ein Begriff aus der spanischen Kindersprache und bedeutet „heia“. Der Dreijährige und seine Schwester Helena wachsen zweisprachig auf: Ihre Mutter Ernestina ist Spanierin, ihr Vater Jörg Deutscher.

„Spanisch ist meine Muttersprache, und es wäre für mich komisch gewesen, mit den Kindern nur Deutsch zu sprechen“, erzählt die 38-jährige Ärztin. Jonathan vermischt die beiden Sprachen noch oft, seine große Schwester Helena macht das längst nicht mehr. Die Sechsjährige geht in die erste Klasse einer Münchner Grundschule und wechselt ohne Probleme zwischen Spanisch und Deutsch hin und her. „Helena hat mit drei Jahren angefangen zu übersetzen. Mein Mann sagte etwas auf Deutsch, und sie sagte es mir dann auf Spanisch und umgekehrt – obwohl wir beide Deutsch und Spanisch sprechen.“

Gibts Nutella auch auf Spanisch?

Sind zwei Sprachen verwirrend und einfach zu viel für ein Kind? Wissenschaftler weisen solche Bedenken zurück. „Zweisprachige Kinder sind nicht überfordert, das Gehirn schafft das“, sagt die Psychologin Sabine Frevert vom Bielefelder Institut für frühkindliche Entwicklung. Und auch Claudia Riehl, Expertin für Mehrsprachigkeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München, stellt klar, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder „im Gegenteil sogar Vorteile haben. Es gibt eine Reihe von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die das beweisen.“

Einsprachigkeit ist weltweit eher die Ausnahme. Mehrsprachigkeit ist die Regel, auch in Europa. So gibt es in der Schweiz vier offizielle Sprachen, in Belgien drei, in Katalonien zwei. Auch in Deutschland wachsen viele Kinder mit zwei Sprachen auf, also simultan bilingual, weil Vater und Mutter unterschiedliche Sprachen sprechen oder weil man sich zu Hause auf Französisch oder Griechisch unterhält, in Kita oder Schule hingegen auf Deutsch.

Aber wie verarbeiten die kleinen Gehirne gleichzeitig zwei unterschiedliche Sprachwelten? Kinder, die von klein auf zwei Sprachen lernen, bilden ein anderes kognitives Muster aus als einsprachig aufwachsende Kinder. Eine kanadisch-französische Untersuchung zeigte, dass bereits Babys Sprachtempo und Melodie unterscheiden können. Studien haben zudem nachgewiesen, dass die Areale im Gehirn, die für Sprachen zuständig sind, sich bei Kindern, die von Anfang an bilingual aufwachsen, weitgehend überlappen. Lernen Kinder erst später eine zweite Sprache, überlappt sich die Aktivierung im Gehirn nur noch teilweise.

Damit zwei Sprachen wirklich auf Muttersprachniveau erlernt werden können, bedarf es echten Inputs. Es genügt nicht, wenn die Oma nur am Wochenende mit ihren Enkeln Kroatisch oder Italienisch spricht. „Jede Sprache sollte im Alltag zu mindestens 20 bis 25 Prozent vorkommen. Am besten wäre es, sie wären ausgewogen, also 50 : 50 –und zwar kontinuierlich“, so Psychologin Frevert.

 

 

Ihre eigene Sprache müssen Eltern perfekt beherrschen. Wer selbst nur holprig Russisch spricht, sollte besser nicht versuchen, seine Kinder darin zu unterrichten. „Mehrsprachige Erziehung ist Arbeit, die Kinder brauchen eindeutig mehr Anregungen: Man muss viel vorlesen, sich viel unterhalten, zusammen Filme anschauen – und zwar in beiden Sprachen“, betont Expertin Riehl. Wichtig ist auch, dass die Sprachen klar getrennt werden.

Grundregel für Eltern: Sprachen sauber trennen!

Vater und Mutter sollen also – wenn sie sich mit dem Kind unterhalten – die Sprachen nicht mischen. Eine mögliche Regel lautet: eine Person, eine Sprache! Denkbar ist auch eine räumliche Trennung: Zu Hause wird beispielsweise Englisch gesprochen, draußen Deutsch. Wenn die Konzepte nicht klar sind und die Erwachsenen selbst oft zwischen den beiden Sprachen hin- und herspringen, dann gewöhnen sich auch Kinder ein linguistisches Kuddelmuddel an.

Solange Kinder aber noch so klein sind wie Jonathan, dürfen sie die Sprachen mischen. Dessen deutsch-spanische Sätze wie „Ich will eso“ (Ich will das) sind in den ersten Lebensjahren ganz natürlich. Schließlich erwerben die Kinder den doppelten Wortschatz und kennen manchmal ein Wort in bislang nur einer Sprache. Manchmal weigern sie sich auch eine Zeit lang, eine Sprache überhaupt zu sprechen, weil sie sich nicht von ihren Freunden unterscheiden wollen. Die Experten empfehlen: geduldig sein und konsequent weitersprechen.

Geduld beweisen musste auch der in Deutschland lebende Amerikaner Ben: „Ich habe mit meinem Sohn immer Englisch gesprochen, aber bis zu seinem dritten Geburtstag hat er mir fast nur auf Deutsch geantwortet. Plötzlich war es dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, und er sprach Englisch.“ Grundsätzlich, so Claudia Riehl von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, seien auch drei Sprachen möglich. Aber dann gelte noch strenger: klare Trennung und viel Anregung.

Klartext zur Mehrsprachigkeit

  • Vorurteil: Zwei Sprachen überfordern.
    Stimmt nicht! Unter bestimmten Bedingungen können Kinder zwei oder sogar drei Sprachen gut lernen. Wichtig ist, dass die Sprachen klar getrennt werden und Eltern ihren Kindern viel und guten Input anbieten, also viel sprechen und vorlesen.

  • Vorurteil: Zweisprachige Kinder sprechen später.
    Falsch! Tests haben gezeigt, dass diese Kinder ebenso wie einsprachige Kinder zu ihrem zweiten Geburtstag etwa 50 Wörter beherrschen – zweisprachige Kinder beherrschen aber dann beispielsweise 30 Vokabeln auf Deutsch und 20 auf Japanisch.

  • Vorurteil: Bilinguale Kinder beherrschen keine Sprache perfekt!
    Nicht richtig. Zwar wird es meist eine stärkere und eine schwächere Sprache geben. Dies hängt auch davon ab, welche Sprache das Kind mehr hört und spricht. Gehören aber zwei Sprachen von Anfang an zur Kindheit, kann durchaus in beiden Sprachen ein muttersprachliches Niveau erreicht werden.

Das Vorurteil, dass zweisprachige Kinder grundsätzlich erst später sprechen, stimmt laut Experten nicht. „Zwischen 18 Monaten und dem zweiten Geburtstag können Kinder in der Regel mindestens 50 Wörter sprechen“, weiß Psychologin Frevert. „Bei bilingualen Kindern ist zwar der einsprachige Wortschatz geringer, aber auch sie beherrschen meist 50 Wörter und mehr – eben auf zwei Sprachen verteilt.“ Kinder, die bilingual aufwachsen, leiden nicht öfter unter einer Sprachentwicklungsstörung als einsprachige Kinder. Diese tritt etwa im gleichen Maß auf. Claudia Riehl empfiehlt Eltern, gelassen zu bleiben, selbst wenn der Spracherwerb manchmal etwas länger dauere: Auch einsprachige Kinder entwickeln sich unterschiedlich schnell! Die Sprach-Expertin plädiert auch für mehr Toleranz an den Schulen. „Vielleicht verwenden zweisprachige Kinder mal eine falsche Adjektivendung, aber das ist ja nicht so schlimm. Lehrer sollten mehr darauf schauen, was diese Kinder können, und nicht so sehr darauf, was sie nicht können.“

Viel plappern ist erwünscht

Besser zweisprachig: Untersuchungen zeigen, dass zweisprachige Kinder in einigen Bereichen sogar deutliche Vorteile haben. Sie seien sprachlich flexibler und könnten ihre Aufmerksamkeit besser steuern. Dies führen Wissenschaftler darauf zurück, dass die Kinder früh lernten, eine Sprache zu unterdrücken. Außerdem gibt es Hinweise, dass es für Bilinguale leichter ist, später weitere Sprachen zu erlernen. Je nach Relevanz und Input im Alltag werden die meisten von ihnen aber eine stärkere und eine schwächere Sprache haben.

„Wenn mir Helena von der Schule erzählt, fehlen ihr manchmal die spanischen Vokabeln. Dann erzählt sie es eben auf Deutsch, das finde ich nicht so schlimm. Aber ich antworte ihr auf Spanisch und frage viel nach – so lernt sie dann auch die spanischen Wörter“, erzählt Ernestina. Im Moment spricht ihre Tochter besser Deutsch als Spanisch – das kann sich im Laufe ihres Lebens ändern. Wenn Helena später vielleicht einmal in Spanien studiert, wird vermutlich Spanisch nach einiger Zeit ihre starke Sprache sein.

 

Fotos: Marden Smith für Magazin SCHULE



Unsere Themen im Überblick

  1. von Schulmeister

    Ich empfehle das Buch „meine deutsch-französische Familie“ (éditions Bernest), ein Meisterstück der Zweispachigkeit.

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