Es ist einfach, das Thema Inklusion wegzudrücken. Sie ist teuer, die Lehrer sind nicht dafür ausgebildet, die Kinder sind überfordert, und eigentlich bringt Inklusion sowieso niemandem etwas. Anna, die Tochter von Frau Müller, ist so gut in Mathe, was soll aus der werden, wenn man ein Kind mit Trisomie 21 oder ADHS in den Unterricht setzt? Dann kann sich die Tochter von Frau Müller wegen des ganzen Gezappels im Klassenzimmer nicht konzentrieren und später nicht mehr Vorsitzende der Deutschen Bank werden. Kommt Ihnen diese Argumentation auch so bekannt vor?
Ich war auf einer inklusiven Gesamtschule, der heutigen Erich Kästner Gemeinschaftsschule Elmshorn. Der Fairness halber muss ich sagen, dass keiner meiner Klassenkameraden Vorsitzender der Deutschen Bank geworden ist, aber wir sind auch erst Mitte 20. In unserer Schule gab es kleine Kursgrößen, Sozialpädagoginnen, keine störende Pausenklingel und zwei Hausmeister, von denen der eine kleinwüchsig war und der andere transsexuell. Schüler wie ich, die keinen Blickkontakt halten konnten, fielen nicht weiter auf.
Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten wurden gemischt, wo immer es möglich war. Das bedeutete, dass wir in Wahlpflicht- und künstlerischen Fächern prinzipiell gemeinsam unterrichtet wurden. Aber auch in Mathe, Englisch und Deutsch brachte uns das System zusammen, indem es A-, B- und C-Kurse anbot. Kam ein Schüler nicht gut mit dem Stoff klar, konnte er problemlos für ein Halbjahr in einen weniger anspruchsvollen Kurs wechseln. Auch der Weg nach oben war immer offen. So war es möglich, Kinder individuell im Rahmen ihrer Fähigkeiten zu beschulen.
Außerdem gab es Inklusionsklassen, in denen Schüler mit und ohne Behinderung in kleinen Gruppen gemeinsam unterrichtet wurden. Wir hatten überall Aufzüge und Rampen, die Gänge waren breit genug für Rollstühle, die Tafeln beweglich. Es ist keine Raketenwissenschaft, Kinder mit körperlichen Behinderungen zusammen mit Kindern ohne körperliche Behinderung zu unterrichten. Wenn Beine, Arme, Augen oder Ohren nicht voll funktionsfähig sind, beeinträchtigt dieser Umstand das Gehirn nicht. Man würde ja auch nicht behaupten, dass ein Mensch ohne Blinddarm leider nicht mehr Quantenphysik studieren kann.
Natürlich müsste man viele Schulen erst mal aufwendig barrierefrei umbauen. Aber ist das wirklich teurer als die Kosten, die ein voll arbeitsfähiger Mensch verursacht, wenn er nur wegen fehlender Rampen nicht auf eine Regelschule gehen kann und der Volkswirtschaft abhanden kommt?
Letzten Monat habe ich einen ehemaligen Mitschüler in New York wiedergesehen. Er war damals vom Realschul- zu uns zum Gymnasialzweig gekommen, weil er ein guter Schüler war. Jetzt studierte er irgendetwas wahnsinnig Wichtiges mit Finanzen an der Columbia. Ein Junge, dem auf einer anderen Schule womöglich nicht nahegelegt worden wäre, überhaupt sein Abitur zu machen.
Es ist tatsächlich so: Menschen, die etwas überhaupt nicht betrifft, sind häufig besonders tonangebend in Diskussionen darüber beteiligt. Auf kaum eine Debatte trifft das mehr zu als auf die Inklusionsdebatte.
Ich für mein Teil bin selber Asperger-Autistin und ADHSlerin, habe also Probleme mit sozialer Interaktion und kann mich schlecht bis gar nicht konzentrieren. Bevor ich auf die inklusive Gesamtschule wechselte, fanden mich die meisten Kinder einfach „komisch“. Ich wurde beschimpft und gemobbt. Meine Diagnosen habe ich erst spät bekommen, nach dem Abitur, die ADHS-Diagnose sogar Jahre nach dem Bachelor-Abschluss. Dass ich diese Abschlüsse geschafft habe, verdanke ich vor allem der Inklusion.
Meine Lehrer auf der Gesamtschule gingen sehr instinktiv auf meine Bedürfnisse ein. Wenn es während einer Klausur zu laut war, durfte ich draußen weiterschreiben. Wenn mich ein Thema nicht interessierte und ich vollkommen abschaltete, wurde mir ein Vortrag zu einem Thema angeboten, das mich interessierte. Wenn ich beim Sportunterricht über meine eigenen Beine stolperte und vor dem Ball weglief, aus ernsthaft nackter Angst, musste ich nicht mitspielen.
Hält ein Kind mit Autismus seine Mitschüler nicht doch auf? Nein. Überhaupt nichtDenise Linke, Asperger-Autistin
Natürlich ist es für körperlich behinderte Kinder schwerer, am Sportunterricht teilzunehmen. Aber auch für andere Menschen kann es schwer sein. Wollen Sie wissen, woran das liegt? Am Sportunterricht. Absolut niemand nimmt aus regulärem Sportunterricht etwas mit. 30 Kinder werden in eine Turnhalle geworfen und müssen dort so menschenunwürdige Dinge tun, wie Gruppen zu wählen. Warum dürfen eigentlich nie die Außenseiter mal das Team zusammenstellen? Warum sind es immer die sowieso schon beliebtesten Kinder?
Abgesehen von den lebenslangen Narben, die das Zusammenstellen der Teams im Sportunterricht seit Generationen hinterlässt, wird dort auch niemand zu Olympiamaterial. In allen meinen Sportkursen wurden die Begabten unter uns außerhalb der Turnhalle gefördert.
Ja, alles schön und gut, aber hält ein Kind mit Autismus oder Trisomie 21 oder Tourette-Syndrom seine Mitschüler in den wirklich wichtigen Fächern nicht doch auf? Das ist ja eines der Hauptargumente gegen Inklusion.
Die Antwort lautet: nein. Überhaupt nicht. Wenn man Kindern nicht sagt, was sie nicht können, dann wissen sie nicht, was sie nicht können. In vielen Fällen können sie es dann. Und wenn sie etwas nicht können, dann kommen sie eben in einen anderen Kurs. In den seltensten Fällen können Menschen wirklich nichts auf Regelschulniveau. Natürlich ist es für Leute mit bestimmten Behinderungen wichtig, viel Ruhe zu haben. Man kann ihnen ja Ruheräume zur Verfügung stellen. Es ist übrigens auch für Personen ohne Behinderung ab und an ganz nett, in Ruhe irgendwo sitzen zu können.
Aufruf zu Toleranz
Denise Linke, 26, hat soeben das Magazin „N#ummer“ gegründet, ein Heft für Menschen mit Autismus und ADHS
Zu den absurdesten Widersprüchen in der gesamten Inklusionsdebatte gehört, dass mir Menschen auf der einen Seite laufend erklären, dass wir alle unser Päckchen zu tragen haben, dass sie viele meiner Probleme aus ihrem eigenen Leben kennen.
Auf der anderen Seite erklären mir Menschen ebenso laufend, dass Kinder wie ich, Kinder mit besonderen Bedürfnissen, nicht in Regelschulen passen, weil wir ganz andere Probleme haben als sie.
Es wäre doch einfach, Lehrer und Schüler entscheiden zu lassen. Was spricht etwa dagegen, Lehrer aus inklusiven Schulen mit Regelschullehrern an einen Tisch zu setzen, um Letzteren die Angst zu nehmen? Was spricht dagegen, dass sich zuständige Politiker ernsthaft mit denen unterhalten, die die Erfahrung mitbringen? Wirklich, liebe Politiker, ich spreche gern mit Ihnen. Einige meiner alten Lehrer und Mitschüler würden mich liebend gern begleiten. Auch die, die gut in Mathe sind. Die rechnen Ihnen sicherlich gern vor, was ein nicht inklusives Schulsystem kostet.